Ich komme gerade aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie schnell wir bereit sind, unseren gesamten Lifestyle zu verändern. Unser gewohntes Verhalten komplett auf den Kopf zu stellen. Das könnte der Anfang sein, von etwas viel Größerem
Als Journalistin kenne ich das ja eigentlich: Das beherrschende Thema von gestern kann heute schon der totale Abschalter sein. Gerade eben noch haben wir uns alle gemeinsam intensiv um das Überleben unseres Planeten gesorgt. Und plötzlich sorgen wir uns nur noch um das Thema Corona, wobei „nur“ hier im Sinne von „ausschließlich“ zu verstehen ist, denn natürlich ist es gut, dass wir uns um die Gesundheit unserer Gemeinschaft sorgen.
Und doch finde ich es verblüffend: Seit Jahren nehmen wir stoisch hin, dass unser Lebensstil erwiesenermaßen das Überleben unserer Art gefährdet, dass aber alle Maßnahmen, das nachhaltig zu ändern, nicht machbar sind. Weil das Arbeitsplätze gefährdet. Oder sonst irgendwie schwierig oder irgendeiner Gruppe nicht zumutbar ist. Politisch nicht durchsetzbar. Die Corona-Krise zeigt uns gerade eindrucksvoll, was mit politischem Willen alles möglich und machbar ist. Vielleicht ein guter Moment, um daraus etwas zu lernen, für die Zeit nach Corona.
Positive Folgen von Corona
Ich verbringe viel Zeit in Italien, und selbstverständlich gehen mir die vielen Toten und Erkrankten und die schrecklichen Zustände im Gesundheitswesen nahe. Aber ich freue mich über gute Nachrichten aus Venedig:
Ich war im Herbst, während des Jahrhunderthochwassers, in der Lagunenstadt. Damals herrschte Konsens in der italienischen wie internationalen Presse, dass vor allem die Kreuzfahrtschiffe aber auch der sonstige Verkehr beim Thema Hochwasser eine zentrale Rolle spielen. Und gleichzeitg war ebenso klar, dass diese wichtige Erkenntnis nichts ändern würde. Auch damals hätte die Politik selbstverständlich einfach entscheiden können, dass Kreuzfahrtschiffe nicht direkt bis in die Stadt fahren dürfen. Hat sie aber nicht. Bis Corona kam.
Nicht mal drei Wochen ist das öffentliche Leben in Italien heruntergefahren, und schon verändert sich das Bild der Stadt. Kaum sind die Kreuzfahrtschiffe ausgesperrt und der Motorboot-Verkehr auf ein Minimum reduziert, ist das Wasser plötzlich so klar, dass man wieder bis auf den Grund sehen kann. Auch wenn der Delfin aus dem Netz in Wirklichkeit im Hafen von Cagliari schwimmt – was übrigens ebenfalls eine gute Nachricht ist, denn auch dort ist es den Meeressäugern sonst zu dreckig – sauberes Wasser und feinstaubfreie Luft sind plötzlich möglich.
As Italians self quarantine in their homes and boats cease to Operate in Venice ,
Dolphins returns & reclaim #venice waters …. Italians pls don't let them disappear again .
This is what we are doing to mother nature . #coronavirusitaly #covid19italy #COVID2019 pic.twitter.com/du1acMc1nR— MOHIT BARMAN (@mohit_b) March 18, 2020
Shut Down als Chance
Auch mir machen die Folgen der Stillegung des öffentlichen Lebens für unsere Wirtschaft Angst. Ich bin Freiberuflerin. Mir zahlt niemand ein Gehalt weiter, unabhängig davon, ob ich in meinem Homeoffice etwas Sinnvolles zu tun habe oder nicht. Ich habe viele Kolleg*innen, denen Aufträge wegbrechen. Auch ich kenne Mitarbeiter von Firmen, die sich rasant auf die Insolvenz zubewegen. Dennoch: Ich hoffe, dass wir als Gemeinschaft aus dieser Situation lernen.
Ich war bei meinem Aufenthalt im November in Venedig erstaunt und insgeheim auch etwas beeindruckt davon, wie cool die Einheimischen in Gummistiefeln im Restaurant saßen, während das Wasser ihre Knöchel umspülte, und ihr Abendessen einnahmen, als ob gar nichts sei. Vielleicht ist das aber genau die falsche Geisteshaltung, nicht nur in der Lagunenstadt, sondern überall.
Warum akzeptieren wir eigentlich klaglos, dass es nicht möglich sein soll, grundlegend umzusteuern, um etwa die Klimaerwärmung aufzuhalten, wo wir doch gerade sehen, wie einschneidend die Politik in kürzester Zeit Rahmenbedingungen verändern kann, wenn sich der Notfall nur groß genug anfühlt? Wieso brauchen wir dafür Corona? Warum tolerieren wir an vielen Stellen, dass Dinge falsch laufen, wo es doch offensichtlich gar nicht so unmöglich ist, Dinge anders zu machen, wenn man nur will?
Ich finde, die aktuelle Situation zeigt, dass sich die Politik ruhig trauen sollte, uns auch in Sachen Klimawandel künftig mehr zuzumuten. Ich bin ein großer Fan davon, dass wir alle Kleinigkeiten anders machen und dadurch viele Kleine ein Großes ergeben. Noch mehr kann allerdings der Gesetzgeber bewirken. Wenn wir alle nächstes Jahr auf einen Langstreckenflug verzichten, fürs Klima, ist das dennoch nichts gegen das Abschalten eines einzigen Kohlekraftwerks. Wir lernen gerade, wieviel Konsumverzicht möglich ist. Könnten nicht zugleich auch unsere Politiker bitte lernen, dass mutige Politik ebenfalls möglich ist?
Dabei geht es mir nicht nur um den Klimawandel: Ich arbeite gerade fürs ZDF an einem Film über Putenfleisch. Dabei bin ich auf mehrere Missstände gestoßen, die niemand in Frage stellt: Praktisch alle konventionell gehaltenen Puten etwa bekommen den Schnabel kupiert, weil sie sonst in den engen Ställen ihre Artgenossen blutig picken – obwohl diese Amputation im Tierschutzgesetz eigentlich verboten ist. Und noch immer werden in der Putenmast besonders viele Antibiotika eingesetzt – die ökonomisch mästbaren Rassen neigen zu Durchfall, weil ihr Darm so empfindlich ist, und wenn in einem Stall mit 5000 Puten eine erkrankt, müssen alle 4999 anderen auch behandelt werden, unabhängig davon, ob sie krank sind oder nicht.
Nun könnte der Gesetzgeber ja einfach dafür sorgen, dass das geltende Tierschutzgesetz nicht mit routinemäßig erteilten Ausnahmegenehmigungen umgangen wird. Oder, im Interesse von uns Menschen, verbieten, dass wichtige Reserveantibiotika in der Putenmast eingesetzt werden. Und wenn diese Regeln dazu führen, dass Puten nicht mehr so gehalten werden können, wie das im Moment üblich ist – nun ja… dann ist das eben so. Dann gibt es eben keine Schnäppchen-Schnitzel mehr, dafür aber auch keine geschundenen Tiere.
Wir sollten es wagen, größer zu denken!
Es gibt so viele Bereiche in unserem Leben, wo sich ein Umsteuern lohnen würde. Die Erkenntnis, dass man Krankenhäuser und Gesundheitswesen nicht nur durch die Brille der Wirtschaftlichkeit betrachten darf, ist dank Corona gesetzt, hoffe ich. Aber schauen wir doch noch mal auf den Klimawandel, der unser Überleben viel stärker bedroht, als Corona-Viren, nur eben nicht so plötzlich: Geht da wirklich nicht mehr? Kurzstreckenflüge so hoch besteuern, dass sie unattraktiv sind, zum Beispiel? Den Straßenverkehr weniger subventionieren? Mehr Radwege, weniger Parkplätze? Eine Maut, die sich an den Kosten der verursachten Umweltschäden orientiert?
Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat gerade einen sehr schönen, optimistischen Text darüber veröffentlicht, wie die Welt nach Corona aussehen könnte. Ich würde da gerne noch etwas Draufsetzen: Jetzt, wo wir gelernt haben, wie radikal wir unsere Gewohnheiten in kürzester Zeit umstellen können… lasst uns alle größer denken. Mehr verändern. Uns. Die Welt. Die Politik. Dank des Corona-Stillstands sind wir dem Erreichen der Klimaziele einen großen Schritt näher gekommen, unfreiwillig. Da geht noch mehr. Wir müssen es einfach nur tun.
Und noch eines hinterher – passt nur so halb zum Text, hat mich aber heute morgen so bewegt… das Lied zur Woche, von Stevy: Auf amol
Schön gedacht. Nach Corona bräuchte es einen ähnlichen Ruck wie ihn Fridays for Future bewirkt haben – und damit Druck auf die Politik. Denn nach Corona wird sonst allzu schnell wieder auf “Gott sei Dank gehts wieder weiter” geschaltet.
Leider sind Politiker, die gut Krise können oft weit weg von “Vision” in ruhigen Zeiten…
Ja, das ist leider wahr. Umso wichtiger, dass wir Wähler und Verbraucher dran bleiben und Druck machen
Wie richtig das alles ist! Die meisten Erfahrungen zeigen leider, dass die Vernunft wieder weitgehend verschwindet, wenn der schwierige Teil der Situation vorüber ist. Nicht umsonst hat es mehr als 20 Jahre gedauert (Verdienst erst der 1968er), bis sich in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass der Nationalsozialismus die Schuld eines ganzen Volkes war und deshalb auch von diesem ganzen Volk bewältigt werden musste. Dabei nennen das heute schon wieder manche einen Vogelschiss in Deutschlands ruhmreicher Geschichte und finden dabei nennenswerte Zustimmung in Wahlen.
Schön geschrieben, nur frage ich mich wie man auf die Idee kommt, dass nach dem Shutdown irgendetwas von dem realisiert werden könnte. Es sind nicht Millionen und auch nicht Milliarden, die an Geld nicht erwirtschaftet wurden, es sind Billionen. Zusätzlich macht der Staat Schulden in unglaublicher Höhe. Dies führt zu einer ungeahnten Anzahl von Arbeitslosen, Firmenpleiten und daraus resultierenden Steuerausfällen auf Jahre. Wenn die Leute schon bei dem bloßen Wort einer fiktiven Lebensmittelknappheit in Panik geraten, was passiert erst, wenn das neue Wort echte Geldknappheit heißt.
Corona hat uns bis jetzt nur eins gelehrt: wie anfällig unser System ist. Wenn Europa und die USA den Höhepunkt überschritten haben, dann geht es erst los. Indien, Indonesien, Afrika, Südamerika… Dort wird noch nicht mal ansatzweise getestet…. und dort reden wir von einer anderen Bevölkerungszahl als in Europa oder den USA.
Ich bin kein Schwarzmaler, ich bin Realist und deswegen glaube ich nicht an die schöne neue Welt danach… zumindest nicht in den nächsten 5 Jahren.
Aber es wird Leute wie Dich brauchen danach alles wieder aufzubauen und etwas zu verändern… dann für meine Kinder.
Bleib positiv – und denk dran: der (die) Letzte räumt die Erde auf <3