Deutsche Verbraucher beim Einkaufen sind an einem neuen Accessoire zu erkennen: der Vorratspackung mit Klopapier. Über Einkaufsverhalten und Konsumentscheidungen in einer Ausnahmesituation.
Mein Sohn und ich essen gerne Honigwaffeln. Freitag nachmittag, ich will fürs Wochenende einkaufen, und ein paar Snacks stehen auch auf meinem Einkaufszettel. Dann stehe ich vor einem halb leergeräumten Regal. Noch vier Packungen der Waffeln. Ich staple sie instinktiv alle in meinen Einkaufskorb – und erschrecke über mich selbst, wie gut Verknappung bei mir als Kaufanreiz wirkt. An der Kasse staune ich angesichts der überquellenden Einkaufswagen der anderen Kunden. Niemand hier kauft einfach nur ein paar Semmeln oder zwei Packungen Milch. Es wird gehamstert, als ob die Vandalen vor den Toren der Stadt stehen.
Der Run auf Toilettenpapier
Zu dem Zeitpunkt habe ich an diesem Tag bereits mehr Gespräche über Klopapier geführt, als jemals zuvor in meinem ganzen 52-jährigen Leben – mit meiner Familie, mit Kollegen… alle berichten von leergeräumten Regalen in Drogeriemärkten und von Last-Minute-Einkaufserfolgen. Geheimtipps für gute Einkaufsquellen – „geh in den Supermarkt, da hast Du bessere Chancen“ – werden gehandelt, wie sonst der Zugang zu Oktoberfestreservierungen. Unterwegs bei mir in München-Schwabing hat wirklich ausnahmslos jeder auf der Straße mindestens eine Groß-Packung Toilettenpapier in der Hand.
Ich gebe ehrlich zu. Auch mich verunsichert die Situation. Andererseits: Eine Krise, wo die ausreichende Versorgung mit Klopapier ein zentrales Problem zu sein scheint – ist das wirklich eine echte Krise? Warum diskutieren wir eigentlich kaum noch über die Lage jener Flüchtlinge, die unter prekärsten hygienischen Bedingungen auf Lesbos oder im Niemandsland zwischen Griechenland und der Türkei festsitzen? Haben die nicht ein viel gravierenderes Problem? Um darüber etwas zu erfahren, muss ich etwa bei Spiegel Online weit scrollen, vorbei an Artikeln darüber, wie ich mein Handy korrekt desinfiziere.
Sind Hamsterkäufe tatsächlich das Gebot der Stunde? Müssen wir befürchten, bald überall vor leeren Regalen zu stehen? Oder dürfen wir demnächst womöglich gar nicht mehr vor die Tür? Natürlich nicht!
Mit Fakten gegen die Panik
Ich bin mittlerweile, wie so viele, ein großer Fan des Berliner Virologen Christian Drosten und seines Podcasts bei NDR Info, wo er auf sehr angenehm unaufgeregte Art mit Fakten gegen die sich breit machende Hysterie argumentiert. https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html Sein aktueller Ratschlag: Wir dürfen auch nächste Woche noch einkaufen gehen. Wir befinden uns nicht inmitten eines Ebola-Infektionsgebietes, wo der geringste Kontakt potentiell gefährlich ist. Es geht um eine großangelegte Strategie, durch die Vermeidung unnötiger Aktivitäten die Verbreitungskurve des Sars-CoV-2-Virus abzuflachen. Wenn ein symptomfreier Bürger sich im Supermarkt mit den notwendigen Lebensmitteln eindeckt, zählt das, so der Wissenschaftler von der Berliner Charité, ganz klar zu den nötigen Aktivitäten. Und es ist, sagt Drosten in der Freitagsausgabe des Podcasts, auch nicht nötig, deshalb nun alles massenhaft online zu bestellen – Onlineshopping mit seinem Rattenschwanz an Öko-Problemen – Verkehrsbelastung, Verpackungsmüll, ausgebeutete Fahrer etc – bleibt auch in Corona-Zeiten eine wenig nachhaltige Art des Einkaufens. Mal ganz abgesehen davon, dass der Kontakt mit einem Kurierfahrer, der von Tür zu Tür geht und in seiner prekären Arbeitssituation praktisch nie zum Hände waschen kommt, womöglich seuchenverbreitungstechnisch schwieriger ist, als der Gang zum Lebensmittelladen.
Vielleicht ist dies ja generell ein guter Moment, das eigene Einkaufsverhalten zu überdenken. Was brauchen wir wirklich Tag für Tag? Welche Produkte sind notwendig, damit wir mit unseren Familien gut und zufrieden leben können? Nachhaltiger Konsum hat immer auch etwas mit Menge zu tun. Mit Produktkategorien. Klopapier, klar, das möchte ich nicht ersetzen, auch wenn mir bei Facebook dauernd Werbung für handliche Poduschen gezeigt wird. Aber braucht man wirklich feuchte Tücher, die einen ziemlich erheblichen CO-Abdruck haben und ganz leicht durch den guten alten Waschlappen zu ersetzen sind? Kaufe ich herkömliches Klopapier, weil die Recycling-Variante schon ausverkauft ist, und spüle damit die wertvolle Ressource Wald ohne Chance auf Wiederverwertung in die Kanalisation? Wieviele kritikwürdige Zutaten wie Palmöl landen beim Hamstern in unseren Vorratsschränken? Müssen wir zwingend große Menge Fertiggerichte bunkern, viel Geld für wenig „echte“ Zutaten?
Mein Film: Die Wahrheit über Fertiggerichte
Nachhaltig einkaufen
Eine gute Freundin von mir hat schon lange den Grundsatz, dass für alles, was sie neu kauft – Klamotten, Kerzenständer, Küchengeräte – etwas anderes gehen muss. Dieser Ansatz diszipliniert enorm und stellt einen jedes mal wieder vor die sinnvolle Frage: Will ich das tatsächlich so dringend haben, dass sich die Verschlechterung meiner Ökobilanz, die jeglicher Konsum generell immer bedeutet, lohnt? Bei Lebensmitteln hilft dieser Gedanke natürlich nicht weiter, aber vielleicht dieser: Die mit Abstand schlechteste Ökobilanz haben jene Lebensmittel, die wir ungegessen entsorgen, weil sie verdorben sind. Bin ich mir sicher, dass ich all die Lebensmittel, die ich in Sorge vor weiteren Entwicklungen in Sachen Corona in meine Küchenschränke packe, auch später irgendwann wirklich verbrauche?
Panik ist nie ein guter Ratgeber. Ich wünsche mir, dass wir auch in so beunruhigenden Zeiten wie momentan mit Augenmaß und Vernunft durch den Tag gehen. Sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, da wo sie geboten sind. Und gleichzeitig ein Gefühl dafür behalten, wo in unserer Welt Menschen mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert sind, und wo nicht.Der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Uniklinikums Halle, Alexander Kekulé hat auf seiner Homepage sehr klar aufgelistet, wie ein sinnvolles Verhalten für jeden Einzelnen im Moment aussieht. Man muss sich kurz durch einen englischsprachigen Text durchscrollen, dann folgen 5 gut umsetzbare Regeln: https://www.kekule.com/
Im Blog von Bauer Willi https://www.bauerwilli.com/lebensmittelversorgung-aktion-gruene-haende/stoße ich auf einen Gedanken, der unsere Lebensmittelversorgung viel schwerwiegender beeinträchtigen könnte, als social distancing. Wenn alle Grenzen dicht sind – woher kommen dann im Frühjahr unsere Hilfskräfte in der Landwirtschaft? Kaum ein Bauern kommt ohne Polen, Rumänen oder Litauer aus, die auf den Feldern das säen und ernten, was wir dann später essen. Das gleiche gilt übrigens für die großen Anbaugebiete in den Niederlanden oder Spanien. Was jetzt nicht gesät und gepflanzt wird, kann im Sommer nicht geerntet werden
Ich hab am Ende dann übrigens doch noch die Nerven verloren und sicherheitshalber zwei Großpackungen Toilettenpapier gekauft. Aber immerhin der Versuchung widerstanden, den Gesamtbestand an Recycling-Klopapier an mich zu raffen. Und es war mir so peinlich, dass ich danach in keinen weiteren Laden gegangen bin, sondern direkt nach Hause. Nobody is perfect…