Zu den vielen Ankündigungen der neuen Regierung gehört auch die Willenserklärung, die Anbindehaltung von Kühen abzuschaffen. Jetzt hat der bayerische Landtag mit den Stimmen der CSU und der freien Wähler die Bundesregierung in einem Dringlichkeitsantrag aufgefordert, zumindest die so genannte saisonale Anbindehaltung weiter zu erlauben.

Dieser Streit ist ein gutes Beispiel dafür, wie komplex Veränderungen in Sachen Tierwohl oft sind. Denn es geht in diesem Fall mal nicht um das, was oft als „industrialisierte Landwirtschaft“ bezeichnet wird. Oder um Großbetriebe, die so billig wie möglich Masse produzieren. Bei den Betrieben, die in der kalten Jahreszeit ihre Tiere in Anbindeställen halten, handelt es sich meist um kleine Höfe, oft im Nebenerwerb. Familien, die seit Jahrhunderten Milchvieh halten und morgens vor und abends nach der Arbeit ihre verbliebenen Kühe melken, nicht unbedingt, weil das so eine lukrative Einnahmequelle ist, sondern eher, weil ihre Familien das immer schon so machen.

Ein Stück Tradition, jenes Bayern, dass wir so urig finden. Aber wie findet das die Kuh? Und ginge das auch anders? Schwierig…

Ein süddeutsches Phänomen

Ich bin in Süddeutschland aufgewachsen. Als ich ein kleines Mädchen war, gehörten in ländlichen Gegenden Kühe auf der Straße zum Alltag: Immer morgens und abends war die Dorfstraße dicht, wenn die Kühe aus den Ställen auf die Weiden getrieben wurden; hinterher legten Kuhfladen auf dem Asphalt Zeugnis ab von der Prozession durch den Ort. Für diese Art Weidegang benötigt ein landwirtschaftlicher Betrieb allerdings Zeit und Personal. Die vielen Nebenerwerbsbauern, gerade in Bayern oder Baden-Württemberg, können das heute nicht leisten. Nur wer sein Weideland zufällig direkt neben dem Stall hat, kann die Kühe problemlos nach draußen lassen. Und gerade in Dörfern, die vom Tourismus leben, ist die Toleranz für Rindviecher als Verkehrsteilnehmer und für ihre stinkenden Hinterlassenschaften beim Dorfspaziergang eher gering:

Kühe im Landschaftsbild kommen super, Kuhfladen am neuen Trekkingschuh deutlich weniger gut…

2020 wurde in Bayern noch mehr als ein Viertel der Milchkühe mindestens einen Teil des Jahres in Anbindeställen gehalten, in Baden-Württemberg waren es 16,5 Prozent, bundesweit 11,6 Prozent. Die bayerischen Parlamentarier von CSU und Freien Wählern argumentieren damit, dass das eh ein Auslaufmodell sei, das sich mit derm Generationswechsel auf den Höfen eh erledige. Es gibt eine Anfrage an die bayerische Staatsregierung zur Anbindehaltung aus dem Jahr 2017. Aus den Zahlen darin geht hervor, wo diese Kühe stehen: vor allem in kleinen Betrieben. Und in der Tat geht die Zahl seit Jahren deutlich zurück. 2011 haben noch mehr als 50 Prozent der Betriebe ihre Kühe ganzjährig angebunden gehalten.

Milchwirtschaft zwischen Tradition und Effizienz

Auch im Stall hat sich seit meiner Kinderzeit einiges geändert: Dort standen und lagen die Kühe früher auf Stroh. Stroh bedeutet jedoch Mist, und Mist bedeutet ausmisten – wie beim Weidegang erfordert auch das Zeit und Personal… wieder ein Kostenfaktor. Deshalb haben Ställe heute oft so genannte Vollspaltenböden. Dort treten die Kühe ihre Exkremente selbst durch die Ritzen des Bodens in die Mistgrube. Das ist nicht besonders gesund für die Gelenke der schweren Tiere, spart aber Zeit und damit Geld. Gemolken wird heutzutage automatisch, immer öfter sogar von Robotern. So kann inzwischen ein einzelner Bauer ohne Hilfskräfte einen Stall mit 100 Kühen bewirtschaften. Groß ist dabei nicht unbedingt schlecht: Gerade die großen Betriebe haben oft helle, luftige Laufställe, die das Fehlen des Weidegangs zumindest teilweise kompensieren. Auch Mistroboter, die den Stall automatisch säubern, lohnen sich erst ab einer gewissen Größe, ermöglichen in großen Ställen dann aber wieder Stroh statt Vollspalte.

Wer in diesem System keine Chance hat, den Spagat zwischen Ökonomie und Tierwohl zu schaffen, ist der Nebenerwerbsbetrieb, der mit einer Handvoll Vieh aus Tradition Milch erzeugt. Ich erinnere mich gut an einen Dreh in Unterammergau vor ein paar Jahren. Ein bayerisches Bilderbuchdorf, wo Milchwirtschaft quasi zur DNA gehört. Damals waren von den rund 50 Milchviehbesitzern im Ort nur noch 3 Vollerwerbsbauern. Die hatten auch große, moderne Ställe mit angrenzenden Weiden. Bei den anderen hab ich etliche Ställe gesehen, die sicher nicht toll sind für die Kühe. Enge Ställe im Ortskern, in den alten Häusern der Familien. Praktisch, wenn man die Arbeit dort schnell nebenher erledigen muss. Und Teil des traditionellen Umgangs mit der Milchwirtschaft. Aber ganz sicher nicht tiergerecht.

Wir müssen uns entscheiden

Da wären wir beim Dilemma: Wer mal gesehen hat, wie Kühe an einem kalten Tag auf eine verschneite Weide gelassen werden, wie riesige Milchkühe ausgelassen durch den Schnee toben, für den ist die Vorstellung schwer erträglich, dass diese Tiere 245 Tage lang in einem Stall festgebunden stehen, essen, schlafen sollen, immer auf den gleichen 3 Quadratmetern. Ich habe auch auf Höfen gedreht, wo die Tiere immer raus dürfen. Wo sie nicht enthornt werden. Wo Kälber viel Zeit mit ihren Müttern verbringen dürfen. Diese Höfe bekommen dann aber auch für ihre Demeter-Heumilch von der Molkerei 60 Cent für den Liter Milch, nicht 26, wie es vor ein paar Jahren bei konventioneller Milch durchaus üblich war.

Aktuell kostet der Liter konventionelle Milch bei Aldi 79 Cent pro Liter. Wer das kauft, dem muss klar sein, dass diese Schnäppchenmilch nur mit Kompromissen in Sachen Tierwohl herzustellen ist. Selbst in einem hochmodernen, voll automatisierten Stall liegen die Kosten, zu denen die Bauern unsere Milch erzeugen, oft weit über dem, was der Markt hergibt.

Was ist uns also wichtig? Familientraditionen pflegen, um jeden Preis? Das Gesicht der Dörfer im Voralpenland bewahren? Oder geht es uns um einen ethischen Umgang mit Nutztieren? Welches Gut ist schützenswerter? Und wenn die Anbindehaltung demnächst komplett verboten wird, wie es in der Schweiz schon seit Jahren der Fall ist, wer kümmert sich dann künftig um die steilen Wiesen am Hang, die im Moment gemäht werden, damit die Stallkühe Futter haben?

Wie gesagt, es ist komplex…