Mein neues Buch behandelt die Frage, wie man essen kann, ohne dabei unseren Planeten mit aufzuessen. Dabei bin ich schnell darauf gekommen, dass der beste Weg gewissermaßen zurück in die Zukunft führt…

Mein Großvater Josef Schickling bei seiner Kommunion Anfang der 20er Jahre

Im Grunde ist es gar nicht so schwierig, sich zu ernähren, ohne für schlimme Klimafolgen verantwortlich zu sein. Man muss sich einfach nur 100 Jahre zurückdenken. Mein Großvater väterlicherseits war 1923 10 Jahre alt und lebte in einem Dorf in der Nähe von Frankfurt. Seine Familie betrieb etwas Landwirtschaft, neben ihrem eigentlichen Broterwerb – Kriftel gilt als „Obstgarten des Taunus“. Was an Obst und Gemüse auf den Tisch kam, wurde entweder selbst angebaut oder auf dem Markt im benachbarten Frankfurt-Hoechst gekauft – ganz selbstverständlich handelte es sich hier immer um regionale Produkte, die gerade Saison hatten. Etwas anderes wurde auf dem Markt dort gar nicht angeboten.

Um die Kirsch- oder Zwetschgensaison zu verlängern, wurde Obst eingemacht oder zu Marmelade gekocht. In meiner Kindheit gab es noch Regale im Keller meiner Großeltern, mit langen Reihen von selbst gemachten Konserven. Viele Lebensmittel ließen sich ohnehin gut lagern: Kartoffeln etwa – niemand hätte damals verstanden, warum man eine Knolle, die bei uns so gut wächst, aus Ägypten importieren sollte. Auch Äpfel wurden eingelagert und hielten als Vitaminquelle über den ganzen Winter. Allerdings schrumpelten sie mit der Zeit etwas zusammen und wurden süßer und weicher.

Fleisch auf nachhaltige Weise

Meine Urgroßmutter hielt 1923 Hühner im Hof hinter dem Haus– deren Eier kamen ebenfalls auf den Tisch. Gelegentlich gab es gebratenes Hähnchen, denn natürlich mussten Hennen nachgezüchtet werden, und die Hähne, die dabei herauskamen, wurden mangels Eignung als Eierlieferanten zu Sonntagsbraten – sorry, Jungs! Außerdem hielt die Familie ein Schwein – das wurde überwiegend mit Küchenabfällen gefüttert, bis es schlachtreif war. Dann kam ein Schlachter auf den Hof. Keine Frage, dass das komplette Tier verarbeitet wurde – Fleisch, Würste, Blutwurst, Fleischkonserven, und aus den allerletzten Resten wurde die so genannte Metzelsuppe gekocht, die von der Familie und der ganzen Nachbarschaft zum Abschluss des Schlachttages verzehrt wurde. Insgesamt waren Fleischgerichte etwas für besondere Gelegenheiten. Die meisten Mahlzeiten der Familie waren mehr oder weniger vegetarisch.

Erst in den 50er Jahren wurde es in Deutschland langsam üblich, einen Kühlschrank zu besitzen. Vorher hatten wohlhabende Haushalte möglicherweise einen Eisschrank, der mit Stangeneis kalt gehalten wurde. Bei meiner Krifteler Familie gab es das nicht. Ein kühler Vorratskeller musste reichen. Schon deshalb wurden zu jener Zeit insgesamt viel weniger Milchprodukte gegessen, als heute. Milch holte man frisch, teilweise sogar mehrmals täglich, und natürlich kam auch die aus der Gegend, weil sie längere Transporte gar nicht heil überstanden hätte. Joghurt oder Dickmilch waren Möglichkeiten, die Verzehrfähigkeit der Milch etwas zu verlängern, Käse war eine weitere Methode, für bessere Haltbarkeit zu sorgen.

Weit gereiste Lebensmittel als Delikatesse

Auch mein Großvater kannte schon exotische Früchte, er hat mir davon kurz vor seinem Tod erzählt, als ich ein Interview mit ihm machte, weil mich – ich habe nicht umsonst Geschichte studiert – die Welt seiner Kindheit interessierte. Orangen oder Ananas konnte man im so genannten Kolonialwarenladen gelegentlich kaufen, als besondere Delikatesse. Auch Fisch war nichts für jeden Tag – entweder war der selbst geangelt, oder er stammte aus Fischzuchtbetrieben in der Gegend, wo Forellen und Karpfen gehalten wurden.

Die Zusammensetzung unserer täglichen Speisen hat sich seit Beginn der Industrialisierung massiv verändert, Veränderungen, die die Klimabilanz des Speiseplans deutlich verschlechtert haben. 1850 kamen in deutschen Familien pro Jahr etwa 228 Kilogramm Getreide und Kartoffeln auf den Tisch, knapp 20 Kilogramm Fleisch, 37 Kilogramm Gemüse und 20 Kilogramm Hülsenfrüchte. 1975 war der Anteil der Hülsenfrüchte drastisch kleiner, nicht mal mehr ganz ein Kilogramm. Getreide und Kartoffeln hatten sich auch deutlich reduziert, auf 158 Kilogramm, etwa zwei Drittel der Menge von 1850. Dafür gab es 1975 mit 66 Kilogramm fast doppelt so viel Gemüse und mit rund 68 Kilogramm sogar dreimal mehr Fleisch. Der jährliche Verbrauch von Südfrüchten verzehnfacht sich in diesem Zeitraum, von 250 Gramm auf 22 Kilogramm. Diese Zahlen hat der Münsteraner Wirtschaftshistoriker Hans-Jürgen Teuteberg gesammelt. Die typische Kost einer wohlhabenden Industriegesellschaft…

Wie wir essen sollten

Mir ist natürlich bewusst, dass wir die Vergangenheit nicht zu sehr romantisieren sollten. Keine Ahnung, wie tiergerecht das Schwein und die Hühner meiner Urgroßmutter lebten. Ich vermute, dass sie Auslauf hatten, aber ich habe in ähnlich traditionell wirtschaftenden Dörfern in Afrika Schweine in sehr kargen Verschlägen erlebt – kleinbäuerlich heißt nicht automatisch gut. Doch der grundsätzliche Ansatz, dass eine Gemeinschaft vorrangig die Lebensmittel verzehrt, die in ihrem Umfeld und unter Nutzung ihrer örtlichen Ressourcen herstellbar sind, finde ich als Grundgedanken schon mal richtig. Auf jeden Fall war die Ernährungsweise vor 100 Jahren dem Ziel der Klimaneutralität sehr viel näher, als wir es heute sind.

Bei der Weltklimakonferenz von Paris wurden 2015 verbindliche Ziele festgelegt, wie die internationale Staatengemeinschaft durch die Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen die Erderwärmung dauerhaft begrenzen soll. Die Erzeugung von dem, was wir täglich essen, spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Ein konkretes Regelwerk, wie eine klimagerechte Ernährung der Menschheit künftig aussehen könnte, ist also eine ziemlich gute Idee.

Als Reaktion auf die Pariser Klimaziele bildete sich die EAT Lancet Comission, ein Zusammenschluss von 37 Wissenschaftlern aus aller Welt, Ernährungsexperten und Klimaforschern. 2019 hat diese Gruppe in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ einen Report veröffentlicht, zu der so genannten „Planetary Health Diet“. Darin entwerfen sie ein Ernährungskonzept, das dabei helfen soll, die Pariser Klimaziele zu erreichen.
Die Autoren der Studie schlagen dafür Standardmengen verschiedener Produktgruppen vor, die täglich auf unseren Tisch kommen sollten.

Die Planetary Health Diet: Zurück zu unseren Wurzeln…

Ich habe die Zahlen der EAT Lancet Comission spaßeshalber mal mit denen des Münsteraner Historikers zu unserer Ernährungsweise im Jahr 1850 verglichen – im Prinzip wären wir mit dem klimaschonenden Ernährungskonzept der Studiengruppe ziemlich genau wieder da, wo unsere Vorfahren vor Anbruch der Industrialisierung schon mal waren.
Das sind die Mengen, die die Forscher empfehlen:

– 350 g Gemüse, davon 50g stärkehaltig, z.B. Kartoffeln
– 250 g Milchprodukte
– 232 g Getreide
– 200 g Obst
– 50 g Hülsenfrüchte
– 50 g Nüsse
– 40 g Pflanzenöl
– 28 g Fisch
– 25 g Soja
– 13 g Eier
– 29 g Geflügel
– 7 g Schwein
– 7 g Lamm oder Rind

Satt wird man davon allemal… und man wäre, was die Aufteilung betrifft, ziemlich nah dran, am Kindheitsessen meines Großvaters.

Entscheidungen, schwer gemacht

Mir ist klar, dass wir nun nicht plötzlich alle anfangen können, im Hinterhof Schweine oder Hühner zu halten. Ich habe einen relativ geräumigen Keller, aber eine Vorratshaltung, wie sie meine Vorfahren betrieben haben, würde schnell meine Möglichkeiten sprengen, mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht so richtig weiß, wann ich das viele Obst und Gemüse, das ich nirgendwo anbauen kann, einkochen sollte.

Aber schon der Versuch, gezielt die Produkte einzukaufen, die wenigstens aus der Region kommen, muss zwangsläufig scheitern. Mal angenommen, Sie würden zwei Sorten Erdbeerjoghurt in ihrem Supermarkt vorfinden – in meinem Beispiel steht der Supermarkt in München, weil ich da zu Hause bin: Joghurt Nummer eins wurde aus Allgäuer Milch hergestellt; die Erdbeeren kommen von einem Obstbauernhof am Bodensee. Gesüßt wurde der Erdbeerjoghurt mit Rübenzucker aus Bayern. Joghurt Nummer zwei besteht aus diversen Milchkomponenten: Die Sahne stammt aus Frankreich, das Milcheiweiß aus Polen, der Milchzucker aus Rumänien. Nächste Woche sind die Herkunftsländer womöglich schon wieder andere, das hängt von der jeweiligen Preisentwicklung ab. Die Erdbeeren hatten einen richtig weiten Weg: Sie sind tiefgekühlt in Schiffscontainern aus China angereist. Die Süße stammt von brasilianischem Zuckerrohr. Nehmen wir mal weiter an, dass der heimische Joghurt etwas teurer ist, sagen wir 20 Cent mehr pro Becher.

Ich bin mir sehr sicher, dass der teurere Joghurt trotzdem gut verkauft würde. Und ich habe dafür auch einen Beleg: Es gibt in Oberbayern die Molkerei Berchtesgadener Land, die sehr nachhaltig wirtschaftet, in vielerlei Hinsicht: Sie sammelt nur so viel Milch ein, wie sie zuverlässig vermarkten kann – obwohl es viele weitere Bauern gäbe, die ihre Milch gerne dort abliefern würden. Sie bezahlt ihren Bauern einen fairen Preis – in den letzten Jahren war das regelmäßig der höchste Milchpreis in ganz Deutschland. Sie unterstützt ihre Lieferanten beim tiergerechteren Umbau der Ställe. Die Milch ist im Supermarkt meist die teuerste Frischmilch und schaffte dennoch 2021 in Bayern einen Marktanteil von stolzen 38,7 Prozent. Wir Kund:innen sind nämlich durchaus bereit, höhere Preise zu bezahlen. Aber wir möchten dann auch sicher sein, dass wir diesen Preis für bessere Ware bezahlen, und nicht für die geschicktere Marketingstrategie.

Mein Lebensmittelkompass

Dieser Text stammt auszugsweise aus meinem Buch über nachhaltige Ernährung, jetzt im Handel. Ich freue mich über zahlreiche Leser. Und über positive Bewertungen bei Amazon 🙂